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Writer's pictureUwe Porwollik

Terminnot macht erfinderisch

Zwischen drei und sechs Monaten warten angehende Rheumapatient:innen im Mittel in Deutschland auf einen Ersttermin beim Facharzt für Rheumatologie. Umso glücklicher schätzen sich Akutpatient:innen, die aufgrund einer erfolgreichen Triagierung und des Vorhaltens von Akutterminen schneller dran kommen. Entzündlich rheumatische Erkrankungen können nämlich wesentlich besser therapiert und schwerwiegende Folgeschäden signifikant reduziert werden, wenn rechtzeitig eingegriffen wird. Dr. Martin Welcker, Geschäftsführer eines Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) in Bayern und Mitentwickler von mehreren digitalen Gesundheitsanwendungen, hat mir in einem Gespräch erklärt, wie eine Gruppe von 20 bis 30 Rheumatolog:innen, der Berufsverband der Rheumatologen sowie andere Ärzt:innen und Patient:innen mit digitalen Innovationen die Versorgung im Fachgebiet der Rheumatologie revolutionieren. Die erste Rheuma-App steht jetzt kurz vor dem Antragsverfahren zur Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).




Im Jahr 2004 übernimmt Dr. Welcker eine Praxis für Rheumatologie und baut diese zu einem MVZ für Rheumatologische Systemerkrankungen mit insgesamt 7 Rheumatolog:innen und mehr als 30 Mitarbeiter:innen in der medizinischen und rheumatologischen Fachassistenz, einem Labor, Management und Verwaltung aus. Dass der Einsatz von IT und digitalen Anwendungen eine herausragende Rolle im Praxisalltag spielt, war dem IT-affinen Facharzt schon im Studium in den 90ern klar: "Zu groß ist der Zeitverlust, wenn medizinische Daten nicht dort verfügbar sind, wo sie dringend gebraucht werden". Und Zeit ist in der Rheumatologie ein knappes Gut. In ihrem letzten Memorandum aus dem Jahr 2016 teilt die Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh) mit, dass in Deutschland fast die Hälfte des Mindestbedarfs an internistischen Rheumatolog:innen fehlt. An dieser Unterversorgung hat sich auch heute, fünf Jahre danach nicht viel geändert. Damit Dr. Welcker die Zeit, die er mit seinen Patient:innen verbringt, optimal nutzen kann, hat er gemeinsam mit dem bundesweit aktiven Rheumatolog:innen-Netzwerk der RheumaDatenRhePort GbR (RHADAR) und der Health Academy die Gesundheits-App RheCORD programmiert. Damit können diagnostizierte Patient:innen anhand standardisierter Fragebögen die Aktivität ihrer Erkrankung tracken und mit ihrer Rheumatolog:in teilen. Diese:r wiederum erhält, auch ohne seine Patient:innen zu sehen, einen Überblick über deren gesundheitliche Verfassung und kann vorab steuern, welche:r Patient:in mehr oder weniger Aufmerksamkeit benötigt. Dr. Welcker gewinnt mit diesem Vorgehen nach eigener Erfahrung im Schnitt 5 Minuten Zeit, die er aktiv für die Kommunikation mit den Patient:innen nutzt. Flankiert wird die App von einer Triage-Anwendung für das Ersttermin-Management (RhePort.de) und einem Arzt-Dokumentationstool (RheMIT©, BDRh) für die standardisierte Arzt-Dokumentation. Wie aber sieht der Versorgungsalltag im MVZ für Rheumatologie bei Dr. Welcker heute aus und welche Rolle spielen digitale Werkzeuge?


Wie bewältigt das MVZ den Patient:innen-Ansturm und welche Rolle spielen dabei digitale Werkzeuge?

Wenn sich ein:e Patient:in heute im MVZ um einen Termin bemüht, muss sie entweder via Telefon eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen oder eine eMail schreiben. Der Anruf wird von einer Software transkribiert und von der Medizinischen Fachassistenz (MFA) in 1. Priorität: Anfragen anderer Ärzt:innen, 2. Priorität: Rezeptbestellungen oder 3. Priorität: Terminanfragen vorsortiert. Terminanfragende werden von der geschulten MFA zurückgerufen und mit Hilfe eines Fragebogens priorisiert. Je nach Dringlichkeit und Aktivität der Erkrankung bekommt die Patient:in zeitnah einen Termin oder muss sich auf eine längere Wartezeit von bis zu sechs Monaten einstellen. Für akute Fälle hält das MVZ jeden Tag mehrere Termine frei. Nur so kann gewährleistet werden, dass Notfälle hinreichend versorgt werden. Über idana©, eine digitale Anamnese-Software, bekommt die terminierte Patient:in dann automatisiert Online-Anamnese-Formulare zugesandt, mit denen Stamm- und Vitaldaten, Beschwerden und Vorerkrankungen sowie der Impfstatus abgefragt und der Behandlungsvertrag übermittelt werden. Die Übernahme der Angaben erfolgt automatisiert in das Praxisverwaltungs- bzw. in das medizinische Dokumentationssystem. In der Praxis wird die Patient:in dann nicht mehr mit Papierkram und Fragen konfrontiert, die sie zu Hause, in aller Ruhe besser beantwortet hätte.


Die Triage wird heute bei Dr. Welcker noch von einer MFA vorgenommen, in Zukunft läuft das weitestgehend automatisiert ab.

Dafür kommt dann – so der Plan – RhePort.de, ein strukturiertes Patientenzugangstool zum Einsatz, das gemeinsam von RHADAR, der Rheumaklinik Aachen, der RWTH Aachen, Qinum und dem Forschungsinstitut für Rationalisierung e. V. an der RWTH Aachen entwickelt wurde. Damit können überweisende Hausärzt:innen für ihre Patient:innen oder die Patient:innen selbst Fragebögen ausfüllen und Laborwerte erfassen, aus denen die Software einen individuellen Score ermittelt. Je nach Ergebnis wird mit Hilfe einer gekoppelten Terminvergabesoftware, den geographischen Daten und der Verfügbarkeit ein Termin ermittelt und die Anamnese-Software stellt automatisiert die notwendigen Fragebögen bereit. Eine medizinische Fachassistenz würde für diese Arbeit theoretisch nicht mehr benötigt. Natürlich muss sich das MVZ noch um die Patient:innen kümmern, die den digitalen Weg nicht gehen wollen oder können. Für das MVZ bedeutet die automatisiert-standardisierte Triage eine enorme Arbeitserleichterung und einen signifikanten Zeitgewinn, den das Team für die Betreuung und Behandlung der Patient:innen aufwenden kann. Einer vom Universitätsklinikum Erlangen durchgeführten und im April veröffentlichten Studie zufolge, sind die RhePort.de-Anwendung und der Symptom-Checker Ada bezüglich "Rheuma" qualitativ ebenbürtig. Für die Verbesserung der Qualität des Scoring-Verfahrens und zur Verwendung in der Versorgungsforschung werden die Gesundheitsdaten datenschutzkonform in einer Datenbank gesammelt, pseudonymisiert ausgewertet und anonymisiert aggregiert. Aus mehr als 15.000 Alltags-Datensätzen werden schon heute in wissenschaftlichen Arbeiten Rückschlüsse auf die Routineversorgung gezogen. Damit unterscheiden sich die RhePort-Datensätze von den Registerdaten, die überwiegend Erhebungen aus den Universitäten einschließen. Die Erfahrung zeigt, dass das Vertrauen der Patient:innen groß ist und nur ganz wenige ihre Einwilligung verwehren – führt der Einsatz der Software doch zu einer Verbesserung der prekären Versorgungssituation von Rheumapatient:innen.


Die klassischen Praxisverwaltungssysteme sind für die Dokumentation nur bedingt geeignet.

Aus diesem Grund hat der Berufsverband Deutscher Rheumatologen e. V. (BDRh) in Zusammenarbeit mit den Ärzt:innen die Rechnersoftware RheMIT© entwickelt, mit der Rheumatolog:innen neben der Kerndokumentation Daten für Versorgungsverträge oder die Evaluation von Innovationsfonds-Projekten vornehmen können. Die Software verfügt über offene Schnittstellen. Ausserdem wird eine Anbindung an die Telematikinfrastruktur und damit an die elektronischen Patientenakten (ePA) der Krankenkassen geplant. Perspektivisch geht Dr. Welcker davon aus, dass er und seine Kolleg:innen überwiegend mit dieser Anwendung arbeiten werden und die klassischen Praxisverwaltungssysteme für die zertifizierte KV-Dokumentation genutzt werden.


Die RheCORD-Arzt-Patienten-App befindet sich bereits auf dem Weg in das DiGA-Verzeichnis und damit in die Regelversorgung.

Derzeit kann die Dokumentations-App von allen Interessierten kostenlos in den gängigen App-Stores heruntergeladen und verwendet werden. Die Gesundheitsdaten liegen auf dem mobilen Endgerät der Patient:innen und können datensicher an die betreuende Praxis übermittelt werden. Die Entwicklergruppe und die Ärzt:innen testen so die Stabilität der Anwendung und gewinnen erste eigene Daten für das im Antragsprozess beim BfArM zu erstellende Evaluationskonzept.

Die Kernfunktionen der Rheuma-App umfasst ein Patiententagebuch, mit dessen Hilfe, nach erfolgter Diagnose, indikationsbezogen relevante Indikatoren der Krankheitsaktivität erfasst werden können. Dazu gehören zum Beispiel der ASAS-Gesundheits-Index, der BASDAI-Punktebogen bei Morbus Bechterew, das EQ-5D-Verfahren zur Messung der Lebensqualität, Erfassung der Morgensteifigkeit, die PHQ-2 Depressionsselbstauskunft oder die Erfassungsmöglichkeit der AU-Arbeitsunfähigkeit, um nur eine Auswahl, aus insgesamt 13 Messinstrumenten zu nennen. Die von den Patient:innen über einen längeren Zeitverlauf hinweg erfassten Gesundheitsdaten können über eine End-zu-End-verschlüsselte Verbindung und mit Hilfe eines zuvor gescannten QR-Codes mit den behandelnden Ärzt:innen geteilt werden. Die geteilten Daten integrieren nahtlos in die Dokumentationssoftware RheMIT© und liegen damit an der Stelle vor, wo sie von den Ärzt:innen am dringendsten benötigt werden. Beide sind so mit Hilfe der Verlaufsdarstellung in der Lage, Trends über das Fortschreiten oder die Verbesserung der rheumatologischen Erkrankung zu erkennen und in Akutsituationen angemessen zu reagieren.

Eine Gesundheitsapp, das ist Herrn Dr. Welcker wichtig, wird sich nur im Markt behaupten, wenn sie den Patient:innen auch ein ganzheitliches Versorgungsangebot unterbreitet und diese für das Management ihrer Erkrankung nicht zwischen unterschiedlichen Apps hin und her springen müssen. So bietet RheCORD über die Tagebuch-Funktion hinaus eine Medikamentenverwaltung, in der ein gesamter Medikationsplan oder auch einzelne Medikamente hinterlegt sowie über eine Erinnerungsfunktion an die Einnahme erinnert werden kann. Ebenso verfügt die Anwendung über einen Kalender in dem Termine für Check-ups und Untersuchungen gespeichert werden können und eine Chat-Funktion mit dem medizinischen Personal. Wenn der Zugriff auf die Smartphone-Kamera erteilt wird, lassen sich mit der App die krankheitsbedingten Veränderungen an Gelenken und Haut dokumentieren.


Finanziert wird die App derzeit zum größten Teil aus Eigenmitteln.

Für Ärzt:innen und Patient:innen ist die Nutzung von RheCORD derzeit kostenfrei. Von der Kostenübernahme in der Regelversorgung, nach angestrebter Anerkennung als DIGA, versprechen sich die entwickelnden Ärzt:innen keine Gewinnmaximierung mit anschließender Exit-Strategie sondern eine grundlegende Verbesserung der prekären Versorgungssituation in der Rheumatologie in Deutschland. Dr. Welcker würde es schon ausreichen, wenn er die App möglichst häufig in seinem eigenen MVZ nutzen könnte. 60 bis 70 Prozent seiner Patient:innen möchte er in Zukunft "app-begleitet" behandeln. Nachdem diese zu Beginn verhalten auf das Angebot reagiert haben, wurde die App im Verlauf der Corona-Pandemie immer häufiger und besser angenommen. Auch seine Mitarbeiter:innen musste er zuerst motivieren, da sich der Nutzen auf Praxisseite erst verstärkt, wenn die Patient:innen die Anwendung regelmäßig nutzen. Im MVZ ist die Arbeitserleichterung durch die Verwendung der App auch heute schon deutlich zu spüren. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass das Studien-Design für die Evaluation des Erprobungszeitraums auf einen positiven Versorgungseffekt im Bereich der patientenrelevanten Struktur- und Verfahrensverbesserungen fokussieren wird. Auch wenn diese nachgelagert zu einer Verbesserung der medizinischen Versorgung führen, lässt sich eine Evidenz dafür in nur 12 Monaten viel schlechter nachweisen. Die Optimierung der Organisationsabläufe, des Zeitmanagements sowie der Patientensteuerung sind in dem relativ kurzen Studienzeitraum aussagekräftigere Indikatoren.


Ein weiterer Anreiz für die Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis ist die Motivation, in der interoperabel vernetzten Arena der Telematikinfrastruktur mitzuspielen.

Wenn die Patient:innen ganzheitlich behandelt werden sollen und das ist in der Rheumatologie mit häufig auftretenden Komorbiditäten notwendig, müssen relevante Behandlungsinformationen auf Wunsch der Patient:innen über die elektronischen Gesundheitsakte (ePA) auch Ärzt:innen anderer Disziplinen, dem stationären Sektor, der Rehabilitation oder der Pflege zugänglich gemacht werden. Dass dabei internationale Frameworks wie IHE, Standards für den strukturierten und mobilen Datenaustausch wie FHIR und internationale medizinische Terminologien wie SNOMED CT zum Einsatz kommen, ist für den Austausch in einem Versorgungsnetzwerk selbstverständlich. Insofern versteht sich die Gruppe um Dr. Welcker schon heute als Blaupause einer digital unterstützten Medizin, die in dem verhältnismäßig kleinen Fachgebiet der Rheumatologie schon heute an einem ganzheitlichen Versorgungssystem arbeitet.


Nicht alles, was technisch möglich ist, gibt mir Dr. Welcker abschließend mit auf den Weg, führt auch zu positiven Versorgungseffekten. Jede Maßnahme muss auf den Prüfstand, evaluiert und mit Evidenz unterlegt werden. Die Videosprechstunde zum Beispiel sei stark politisch gehyped, bringe in der Rheumatologie aber nur überschaubare Vorteile. Die Qualität eines Fotos sei oftmals höher als das bewegte Bild und um Veränderungen an Gelenken abschließend richtig einordnen zu können, sei der Tastsinn am Ende unverzichtbar.


Was die digitale Souveränität der Patient:innen und den Zugang zu digitalen Anwendungen betrifft, sei das nicht – wie gemeinhin angenommen – eine Frage des Alters sondern auch des sozialen Status'. Es sei wichtig, dass die Menschen, die sich Digitalisierung nicht leisten können nicht hinten runter fallen. Deshalb wird die Medizin noch für lange Zeit nicht umhin kommen, analoge Zugänge zur Gesundheitsversorgung vorzuhalten. Dr. Welcker betont, dass der Einsatz digitaler Technik nicht zu einer Entmenschlichung der Medizin, sondern zu mehr Zeit mit den Patient:innen führen muss. Die anhand von Automatisierung eingesparte Zeit müsse dann auch den Patient:innen zu Gute kommen, die sich nicht versiert in der digitalen Gesundheits-Arena bewegen können oder wollen!


 


Sie sind Nutzer:in von digitalen Anwendungen im deutschen Gesundheitswesen?

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