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Writer's pictureUwe Porwollik

Zum Versicherten auf die Couch!

Die Digitalisierung macht auch vor den gesetzlichen Krankenkassen und ihren Versicherten nicht halt! Damit einher geht schon seit einigen Jahren der Trend weg vom reinen Kostenerstatter hin zur Gesundheitskasse, die einen immer aktiveren Part bei der Gestaltung der Gesundheitsversorgung einnimmt. Egal ob es um die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU), die Beantragung von Versorgungsleistungen, den Einsatz von Gesundheits-Apps, Telemedizin oder den Einsatz der elektronische Patientenakte (ePA) geht, immer mehr Kassen nutzen die Digitalisierung als Chance, um die Versorgung in Deutschland patientenorientiert und sektorenübergreifend zu gestalten. Dabei verändert sich nicht nur die Außenkommunikation der traditionell geprägten Körperschaften des Öffentlichen Rechts, sondern auch deren internen Abläufe und Arbeitskultur. Ich habe mich mit Benjamin Anders, Fachkoordinator für Digitalisierung und Agiles Arbeiten in der BARMER-Hauptzentrale in Wuppertal darüber unterhalten, wie agile Methoden, Design Thinking und Lean Management den Arbeitsalltag der zweitgrößten gesetzlichen Krankenkasse nachhaltig verändern und eine neue Kundenzentrierung ermöglichen.

Foto von Martin Péchy


Benjamin Anders arbeitet in der Hauptzentrale der BARMER in Wuppertal und kommt ursprünglich aus dem Fachbereich Hilfsmittel. Dort arbeitete er fünf Jahre als Vertragsreferent und handelte mit Sanitätshäusern und Apotheken zu verschiedenen Hilfsmittel-Produktgruppen die entsprechenden Verträge aus. Beim Vertragsmanagement geht es im Einzelnen um die Ausgestaltung der Leistungsumfänge, der Preise, besonderer Services, Wartung und Extras in der Hilfsmittelversorgung – kurz alle Leistungen, die letztendlich beim Versicherten ankommen. In dieser Zeit etablierte er gute Verknüpfungen mit großen Herstellern von Medizintechnik-Geräten. Wenn Benjamin Anders heute als Fachkoordinator für Digitalisierung und Agiles Arbeiten mit seinem Fachbereich zusammenkommt und gemeinsam mit den Teams die jüngsten Planungen zur Ausgestaltung der Versichertenreisen bespricht, sieht sein Arbeitsbereich und die darin stattfindende Zusammenarbeit ganz anders aus als noch vor zwei Jahren, als er sich aufmachte, um bei der BARMER.i ("i" wie Innovation) in Berlin an der Patientenreise Hilfsmittel mitzuarbeiten und sich zum Botschafter für agile Arbeitsmethoden ausbilden zu lassen. Auf die Frage, was sich konkret geändert hat, antwortet er sofort mit der gesteigerten Relevanz der Kundenperspektive:




"Agilität und Design Thinking erlauben es uns, bereits vor den Vertragsverhandlungen die Versichertenperspektive einzunehmen. Das ist unabdingbar, wenn wir im Interesse der Versicherten handeln wollen."




Benjamin Anders, Digitalisierung & Agiles Arbeiten


Wie leitet die BARMER bundesweit einen organisatorischen Change-Prozess ein, um in Verbindung mit einer agilen Arbeitskultur das vorhandene Wissen aus den Fachbereichen zur Konzeptionierung von innovativen digitalen Produkten zu nutzen? Um das besser zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf die Aktivitäten des hausinternen "Digital-Botschafters" der BARMER.i zu werfen.


BARMER.i: Digital- und Innovations-Hub der BARMER

Die BARMER.i entwickelt in Zusammenarbeit mit Dienstleistern und den Fachbereichen neue digitale Produkte und arbeitet als Thinktank und Inkubator, der in der BARMER bundesweit die Begeisterung für digitale und nutzerzentrierte Lösungen wecken soll. Dafür wurde unter anderem das Rotationsprogramm ins Leben gerufen, das jede:r BARMER-Mitarbeiter:in die Möglichkeit eröffnet, sich in Berlin in der Verwendung von agilen Arbeitsmethoden ausbilden zu lassen. Ziel dieses Programms ist es, moderne Arbeitsansätze und den Kulturwandel im Unternehmen voranzutreiben und Transparenz und Kommunikation als Grundfeiler in der Organisation zu verankern. Jedes Jahr gibt es drei Durchgänge, deren Teilnehmer:innen für jeweils drei Monate in agilen Arbeitsmethoden geschult werden. Die Mitarbeiter:innen können sich für dieses Programm entweder bewerben oder sie werden, wie im Fall von Benjamin Anders, aufgrund ihres fachspezifischen Hintergrundes gezielt angesprochen. Die Nachfrage ist groß, denn die Teilnehmenden bekommen Arbeitsmethoden vermittelt, die sie für die Entwicklung, Umsetzung und Weiterentwicklung von digitalen Produkten benötigen und die bei der BARMER in der Fläche so konzentriert nicht vorhanden sind. So kümmern sich in Berlin ein Agiler Coach und mehrere Service Designer:innen um bis zu fünf Rotarier:innen (Teilnehmer am Rotationsprogramm) und schulen Recherche- und Interviewtechniken aus dem Design Thinking, das Scrum Framework, Brainstorming-Techniken, Kanban-Prinzipien oder bilden die Teilnehmenden zu Product Ownern aus. Zusätzlich bietet die Hauptstadt viele Kooperationsmöglichkeiten mit dort angesiedelten eHealth-Start-ups und auch die Nähe zu Politik und Verbänden bietet zahlreiche Ansprechpartner:innen rund um das Thema Digitalisierung im Gesundheitswesen. Die wenigsten Rotarier:innen haben vor dem Programm schon gelernt, wie zum Beispiel eine App entwickelt und Wireframes erstellt oder Interviews mit Nutzer:innen durchgeführt werden. Benjamin Anders lernte ganz konkret, wie er gemeinsam mit dem Entwicklungsteam Antworten darauf finden kann, welche Bedürfnisse und Wünsche Versicherte zur Nutzung einer App bringen, was sie in einer App hält und wie ein Minimal Viable Product (MVP) konzeptioniert wird. Neben den theoretischen Einheiten durchlaufen die Rotarier:innen an einem konkreten Produkt den gesamten Design Thinking Prozess und können das frische Wissen unmittelbar in der Praxis erproben.


Die BARMER-App und der Kompass

Benjamin Anders zog im Januar 2020 für drei Monate nach Berlin, um als Experte für Hilfsmittel wichtigen Input für die Produktentwicklung des in der BARMER-App integrierten Kompasses zu liefern und sich zum Product Owner ausbilden zu lassen. Die Kompass-App bietet schon heute ein Modul zum Krankengeld, mit dem die Versicherten sich neben den wichtigsten Informationen und Services die Höhe des Krankengeldes, den Bearbeitungsstatus oder den Auszahlungszeitpunkt anzeigen lassen können (siehe Abbildung rechts).

Derzeit sind weitere Module zum Mutterschaftsgeld, zur Hilfsmittelversorgung, zum Zahnersatz und Kieferorthopädie sowie zur Rehabilitation in Bearbeitung. Das Ziel der Anwendung ist es, den Versicherten gegenüber die größtmögliche Transparenz über die weitgehend im Verborgenen ablaufenden Kassenprozesse zu ermöglichen. Bei der Hilfsmittelversorgung zum Beispiel sei den Versicherten überhaupt nicht klar, welche Rolle die Krankenkasse in der Versorgung spielt, berichtet mir Benjamin Anders. Wenn Ärzt:innen oder Therapeut:innen in Zukunft einen Kostenvoranschlag erstellen und diesen bei der Krankenkasse einreichen, können die Versicherten auf ihrem Smartphone mit Hilfe des Kompasses den Bearbeitungsstatus verfolgen. Es wird dann transparent angezeigt, wie hoch zum Beispiel der Kostenvoranschlag des Herstellers ist. Falls eine Nachfrage beim Leistungserbringer erfolgt, der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) oder andere Experten für die Bewertung des Antrags mit einbezogen werden müssen, wird auch das im Kompass transparent angezeigt. Zieht sich die Antragsbearbeitung länger hin als geplant, sind die Versicherten bis zur Genehmigung oder Ablehnung immer darüber informiert, an welcher Prozesskette sich die Bearbeitung des Antrags befindet. Die Versicherten wissen dann, dass ihr Antrag nicht liegen geblieben ist und können sich auf die notwendige Bearbeitungszeit einstellen. Die Service-Berater:innen, so die Hoffnung der Kasse, werden in Zukunft mit weniger niederschwelligen Service-Anfragen konfrontiert und haben den Kopf frei für Anträge, die mehr Aufmerksamkeit benötigen. In dieser Tiefe ist diese gelebte Transparenz in der deutschen Krankenversicherungslandschaft bislang einmalig.


Die Krankenversicherung wird häufig als Blackbox wahrgenommen, deren Aufgaben und Rolle für die Versicherten völlig intransparent sind. Das soll sich mit dem Kompass ändern.

Im Rahmen der für die Erstellung der Versichertenreise "Hilfsmittel" notwendigen Nutzer-Interviews waren sich einige der Befragten gar nicht so sicher, ob sie wirklich über die tatsächlichen Kosten der Hilfsmittelversorgung informiert werden wollen. Aufgrund von Servicepaketen, die den Austausch von Ersatzteilen, Wartung und Reparatur oder die Nachbestellung von Zubehör enthalten, könnten im Gesamtpaket stattliche Preise zusammenkommen. Das möchte man im Zweifel gar nicht wissen. Mit Hilfe der App sehen die Nutzer jedoch auch, welche konkreten Leistungen in ihrem Paket enthalten sind. Die überwiegende Mehrheit zeigte sich mit der neuen Transparenz zufrieden und begrüßte die Features der App.


Die Durchführung von Interviews mit den Versicherten und das Einholen von Feedback in zahlreichen Prototypen- und Detailtests waren die Grundfeiler der Kompass-Produktentwicklung. Das Entwicklerteam nahm sich pro Versicherten mindestens eine Stunde Zeit und setzte sich bei insgesamt zwölf Versicherten auf die Couch, um die Ideen und Prototypen für die neue App vorzustellen. Im Anschluss wollte das Team wissen, was die Versicherten davon halten. Dieses Vorgehen war der Ursprung von vielen Ideen und Features, die sonst nie ihren Weg in die App gefunden hätten. Noch wichtiger war den Versicherten jedoch, dass ihre Krankenkasse sie frühzeitig bei der Entwicklung von neuen Produkten einbezieht und sich für ihr tatsächliche Lebenssituation interessiert. "Das wurde extrem positiv aufgenommen und war eine meiner wichtigsten Erfahrungen im Rotationsprogramm", erklärte mir Benjamin Anders.


"Wenn man eine Stunde mit einer Mutter am Küchentisch sitzt, sie nebenbei kocht und im Nebenzimmer ein schwer behindertes Kind sitzt, erfährt man hautnah, was die Versicherten bewegt."

Solche Erfahrungen mache man definitiv nicht im Büro. Im Rotationsprogramm wurden sie ausführlich darauf vorbereitet, wie sie Nutzerinterviews durchführen, welche Art von Fragen sie stellen, um Empathie für die Versicherten und ihre Situation zu entwickeln und wie sie das gewonnene Verständnis und die wichtigen Erkenntnisse anschließend in der Produktentwicklung umsetzen. Eigens von der BARMER.i dafür abgestellte UX-Designer:innen haben das dafür notwendige Methodenwissen vermittelt. Dieses Wissen sei unheimlich wertvoll und findet von Benjamin Anders und seinen Teams auch heute in Wuppertal regelmäßig Anwendung. So führen die Fachbereiche regelmäßig einstündige Nutzerinterviews zu den verschiedensten Themen mit den Versicherten durch, um nah bei ihren Kund:innen zu bleiben – in Zeiten von Corona natürlich telefonisch oder via Videokonferenz.


Aus Berlin in die gesamte Republik

Benjamin Anders und seinen Programm-Kolleg:innen war sehr schnell klar, dass die vermittelten Konzepte das Potential haben, alte Strukturen aufzubrechen und auch die Arbeit in den heimischen Fachbereichen nachhaltig zu verbessern. Und so bildete sich in Wuppertal ein agiles Kernteam, das als Multiplikator Methoden und Werkzeuge in die etablierten Teams trägt und dort die Arbeitsweise verändert. Im Zentrum der Arbeit des Kernteams stand die Beantwortung der folgenden Frage: Wie können die Kolleg:innen mitgenommen und alte Strukturen aufgebrochen werden? Und das Ergebnis kann sich sehen lassen! Heute haben zahlreiche Teams die Scrum-Events, -Artefakte und

-Accountabilities erfolgreich implementiert: Im Fachbereich Hilfsmittel wird in iterativen Sprints gearbeitet, Product Backlog Items in Refinments und Sprint Meetings in transparente Arbeitspakete verwandelt und die Arbeitsergebnisse in zweiwöchigen Reviews den Stakeholdern oder mindestens den Teamleitern vorgestellt. Kein Produkt und kein Sprint, ohne dass nicht ein Ziel formuliert wird, das Sinn stiftet, Transparenz herstellt und die Arbeit der Mitarbeiter:innen einem übergeordneten und versichertenzentrierten Kontext zuordnet. Extrem begeistert sind die Teams von der Einführung von Retrospectiven am Ende der Sprints. Das Spiegeln der eigenen Zusammenarbeit im Team und der verwendeten Werkzeuge ist, so hat mir Benjamin Anders verraten, in der Vergangenheit viel zu kurz gekommen oder hat in dieser Form gar nicht stattgefunden. Heute wissen die Teams, dass sie nur agil bleiben, wenn sie sich kontinuierlich verbessern und an sich und ihren Werkzeugen arbeiten. Ein weiteres wichtiges Takeaway aus der Berliner Zeit ist die Gründung von interdisziplinären Teams. Nur wenn alle um ein Produkt oder eine Leistung beschäftigten Kolleg:innen in die Entwicklung involviert würden, könne das Team frühzeitig erkennen, ob sie bei der Entwicklung von Ideen und Nutzenszenarien auf dem Holzweg seien. Oder ob zum Beispiel die Informations-Website zur Hilfsmittelversorgung wirklich so versichertenorientiert aufgebaut ist, wie lange geglaubt oder doch zu fachlich. Die Kolleg:innen, die jeden Tag mit den Versicherten im Austausch stehen, erkennen das sehr schnell und bringen dieses wichtige Wissen in Form von Feedback ein, erklärte mir Benjamin Anders.


"Bei neuen Vertragsprojekten versuchen wir jetzt von Anfang an die Praktiker, die Kolleg:innen aus dem Hilfsmittel- oder Pflegezentrum mit ins Entwicklungsteam zu nehmen. Also die, die jeden Tag mit Kund:innen im Kontakt stehen!"

Natürlich verläuft der Wandel hin zu einer agilen Organisation nicht ohne Reibung. So fällt es immer noch schwer, die Kolleg:innen aus ihren traditionellen Arbeitseinheiten herauszulösen, um sie regelmäßig in die Arbeit der interdisziplinären Teams einzubinden. Das Tagesgeschäft müsse weitergehen und die entsprechenden Kolleg:innen in ihrer Abwesenheit ersetzt werden. Hier muss immer wieder um Verständnis geworben und die Grund- und Kernkonzepte der agilen Organisation aufs Neue vermittelt werden. Ebenso verhält es sich innerhalb der Teams, in denen einige Kolleg:innen aufgrund ihrer Erfahrung als Rotarier:innen bereits bestens mit agilen Arbeitsmethoden und -werkzeugen vertraut sind und andere komplett neu abgeholt werden müssen. Beim Überwinden dieser Kluft müsse man zum Teil auch sehr sensibel vorgehen. Ein mit Sticky Notes zugepflastertes Kanban-Board könne für Kolleg:innen, die noch nicht agil gearbeitet haben auch erst einmal abschreckend sein. Das ist der Grund, warum Benjamin Anders nicht mehr operativ im Fachbereich Hilfsmittel tätig ist, sondern heute in Vollzeit als Fachkoordinator für Digitalisierung und Agiles Arbeiten im Fachbereich und darüber hinaus arbeitet. Von seinen Vorgesetzten erhält er in seiner neuen Rolle die volle Rückendeckung. "Mit meinem Vorschlag, das in Berlin erlernte Wissen hier in die Fläche zu bringen rannte ich nach meiner Rückkehr offene Türen ein", erzählte mir Benjamin Anders. Und auch wenn einige Kolleg:innen zu Beginn skeptisch reagieren, wächst die Begeisterung für die neuen Methoden von Tag zu Tag. Einmal mit agilen Arbeitsmethoden begonnen, möchte keine:r zur traditionellen Arbeitsweise zurückkehren. Mittlerweile hat sich bundesweit ein Alumni-Netz, bestehend aus insgesamt 50 ehemaligen Rotarier:innen entwickelt, dass sich regelmäßig in einer Videokonferenz austauscht und sich gegenseitig unterstützt und coacht, wenn es darum geht, schwierige Herausforderungen zu meistern.


Benjamin Anders vergleicht den Change-Prozess in der Hauptzentrale in Wuppertal, die mehr als 1.000 Mitarbeiter:innen zählt, mit einem großen Tanker, der nicht von heute auf morgen den Kurs ändert, der aber, wenn er seinen Kurs einmal neu ausgerichtet hat, nicht mehr von diesem abgebracht werden kann. Und so viel ist nach unserem Gespräch klar geworden, die BARMER befindet sich schon heute vollständig in der digitalen Transformation.

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